Berlin, 10. Oktober 2024 – Eine Jeans für 13 Euro, eine Smartwatch für neun Euro oder ein Blutdruckmessgerät für nicht mal sieben Euro: Online-Marktplätze wie Temu, Shein, AliExpress, Ebay oder Amazon Marketplace locken Kunden mit extrem niedrigen Preisen und hohen Rabatten. „Mit dem Direktverkauf über Online-Plattformen kommen massenhaft Produkte auf den europäischen Markt, die nicht die geltenden Anforderungen an die Produktsicherheit erfüllen“, sagt Dr. Joachim Bühler, Geschäftsführer des TÜV-Verbands. Dazu zählten beispielsweise scharfkantige Spielzeuge, ungenaue Gesundheitstracker, falsche oder gar keine CE-Kennzeichnungen oder fehlende Kontaktinfos. Die Bundesnetzagentur hat im Jahr 2023 rund 5.000 Warensendungen aus Drittstaaten kontrolliert und festgestellt, dass 92 Prozent dieser Waren nicht den EU-Vorschriften entsprachen. Der Handelsverband HDE meldete, dass etwa 60 Prozent der gelieferten Produkte wegen Verstößen gegen das Chemikalienrecht nicht verkehrsfähig waren. In einem aktuellen Positionspapier fordert der TÜV-Verband jetzt eine konsequente Anwendung des europäischen „Digital Services Act“ (DSA). Unsichere Produkte müssten schnell von den Plattformen entfernt werden, Ansprechpartner in der EU erreichbar sein und manipulative Werbung unterbunden werden. Zudem sollte die 45-Millionen-Nutzergrenze für große Marktplätze abgesenkt werden, damit mehr Online-Händler strengere Vorgaben erfüllen müssen. „Im Online-Handel haben wir weniger ein Regulierungs- als ein Kontroll- und Durchsetzungsdefizit“, sagt Bühler. „Notwendig sind EU-weit ausreichende Ressourcen für den Zoll und die Marktüberwachung.“
Aus Sicht des TÜV-Verbands verdeutlicht der rasante Aufstieg von Marktplätzen wie Temu, Shein oder AliExpress die Probleme bei der Rechtsdurchsetzung im Bereich der Produktsicherheit im EU-Binnenmarkt. Wer in der EU Produkte verkauft, muss die Anforderungen der Verordnungen zu Produktsicherheit und Marktüberwachung oder auch der Spielzeug- oder Niederspannungsrichtlinie einhalten. Die Vorgaben beschreiben Sicherheitsstandards, umfassen Rückruf- und Meldepflichten und definieren Verantwortlichkeiten. So müssen Hersteller mit Sitz außerhalb der EU einen Bevollmächtigten benennen, der die Aufgaben und Pflichten des Herstellers wahrnimmt. Insbesondere einige große Online-Plattformen aus Drittstaaten unterhalten in Europa jedoch keine eigene Infrastruktur wie Logistikzentren oder Warenhäuser. „Es muss sichergestellt werden, dass für Verbraucher:innen und Behörden ein rechtlich verantwortlicher Ansprechpartner in der EU zur Verfügung steht, der für die Produktkonformität einsteht und im Schadensfall auch in Regress genommen werden kann“, sagt Bühler. Eine Überprüfung und dauerhafte Kontrolle dieser Ansprechpartner durch unabhängige Dritte sollte die dauerhafte Erreichbarkeit sicherstellen.
Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten des Digital Services Act nutzen
Einen wichtigen Schritt zur besseren Kontrolle des Online-Handels hat die Europäische Kommission mit dem Digital Services Act gemacht, der seit Februar 2024 in Kraft ist. Dieser sieht vor, dass „sehr große Online-Plattformen“ mit mehr als 45 Millionen Nutzer:innen in der EU strengeren Transparenz- und Sorgfaltspflichten unterliegen. Die Plattformen müssen Risikobewertungen durchführen, Werbeanzeigen und deren Targeting transparent machen, Maßnahmen gegen Desinformation ergreifen und dafür sorgen, dass unsichere Produkte nicht vertrieben werden. „Die EU-Kommission muss die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten des DSA konsequent nutzen und anwenden“, betonte Bühler. Aus Sicht des TÜV-Verbands sollte die im DSA festgelegte Nutzergrenze von 45 Millionen, was etwa einem Zehntel der EU-Bevölkerung entspricht, abgesenkt werden. Bühler: „Auch mittelgroße Online-Marktplätze sollten den strengeren Transparenz- und Sorgfaltspflichten unterliegen, denn das Schutzbedürfnis der Verbraucher misst nicht an der Unternehmensgröße.“
Zoll und Marktüberwachungsbehörden überfordert
Produkte, die über E-Commerce-Plattformen in die EU gelangen, werden aufgrund von Funktions- und Kapazitätsgrenzen nur stichprobenartig und EU-weit mit unterschiedlicher Intensität kontrolliert. Die exponentielle Zunahme von Produkten aus Drittstaaten, die durch den Online-Handel über große Plattformen auf den EU-Markt gelangen, bringt das bestehende System der Marktüberwachung im Zusammenspiel mit dem Zoll an seine Grenzen. Die EU-Kommission geht davon aus, dass im Jahr 2023 zwei Milliarden Pakete mit einem Warenwert von weniger als 150 Euro – also unterhalb der Zollgrenze – an EU-Bürger:innen versandt wurden. Häufig sind sie falsch deklariert, um den Zoll zu umgehen. „Inwieweit die im Rahmen der laufenden Zollreform angekündigte Abschaffung der Zollbefreiung bis 150 Euro Warenwert erfolgreich ist, bleibt abzuwarten“, sagt Bühler. Der Versand von Einzelsendungen könnte dadurch für Hersteller außerhalb der EU unattraktiver werden, sodass die Zahl der Direktsendungen sinken könnte.
Prüfkennzeichen bieten Verbraucher:innen Orientierung
Aus Sicht des TÜV-Verbands sollten sich Verbraucher:innen darauf verlassen können, dass nur sichere Produkte auf den EU-Binnenmarkt gelangen. „Bei der Produktsicherheit im Online-Handel klaffen die gesetzlichen Vorgaben und die Realität immer weiter auseinander“, sagt Bühler. „Die Marktüberwachungsbehörden sind seit Jahren chronisch unterfinanziert und personell unzureichend ausgestattet.“ Auch wenn nicht annähernd alle Lieferungen kontrolliert werden könnten, müsse der Druck auf Online-Händler und Hersteller erhöht werden.
Verbraucher:innen sollten bei Online-Käufen auf Zertifizierungen und Produktsicherheitszeichen achten, die von unabhängigen Prüfstellen vergeben werden. Gute Orientierung bieten das GS-Zeichen für geprüfte Sicherheit oder ein Siegel der TÜV-Unternehmen. Produkte mit diesen Prüfzeichen wurden von unabhängigen Stellen geprüft und stehen für die Einhaltung von Richtlinien und Normen.